Judo auf See

oder: wie Kano den mächtigen Russen besiegte

Kano überquerte den Indischen Ozean auf einer ereignislosen Reise, die ihn zurück nach Japan führte. Er spazierte gerade über das Aussendeck, als er sich einer Gruppe von Mitreisenden näherte, die sich staunend um etwas geschart hatten, was er zunächst nicht ausmachen konnte. Als er näher kam, erkannte er zwei Männer, die ganz offensichtlich dabei waren, einen muskulösen Seeoffizier einem Krafttest zu unterziehen. „Das sieht nach einem Spaß aus“, dachte er. Der Offizier der sich als Russe herausstellte, hielt ein Ende einer schweren Metallstange und die beiden anderen taten ihr Bestes, um das andere Ende zu bewegen, was ihnen allerdings nicht einen Zentimeter weit gelang. Ihre wie auch immer gearteten gemeinsamen Anstrengungen, die Stange zu ziehen, weg zu drücken oder sonst wie zu bewegen, waren für den riesigen Russen kein Problem. Er hielt die Eisenstange an ihrem Platz. Der russische Offizier wurde von den Umstehenden hochgelobt für seine außergewöhnliche Kraft und er schien durch und durch zufrieden mit sich. Zufälligerweise stand Jigoro neben einem anderem Russen, offensichtlich einem Kaufmann, der ebenfalls die ganze Aktion beobachtete. „Ihr Landsmann ist sehr kräftig,“ bemerkte Jigoro, „aber ich könnte ihn am Boden festhalten und er hätte keine Chance zu entkommen.“ Der russische Kaufmann krümmte sich vor Lachen. Kopfschüttelnd machte er sich auf den Weg zu dem muskulösen Seeoffizier und überbrachte ihm Kanos überraschende Aussage.

Der große Mann warf nur einen blick auf den schmal gebauten Herausforderer und lies ein langes und hartes Lachen ertönen. Schließlich wendete er sich an Kano. „In Ordnung, kleiner Mann. Halt mich!“ sagte er mit einem Grinsen.

Ganz offensichtlich bestand keinerlei Gefahr das soeben gewonnene Prestige vor den Mitreisenden zu verlieren. Die Zuschauer bildeten einen Kreis um die beiden in Erwartung von größerer Aufregung.

„Russland gegen Japan“ schrie jemand. „Groß gegen Klein“ rief ein anderer und alles lachte. Als er in den Ring der Zuschauer ging, bemerkte Kano, dass auch er eine Gruppe hatte, die ihn anfeuerte. Der russische Offizier, der sich zu voller Größe aufgerichtet hatte, schaute auf Kano herunter. Dann legte er sich auf das Deck und Kano nahm einen sicheren Haltegriff. Auf ein Signal eines der Passagiere begann der Russe sich zu drehen und zu winden, mit aller Kraft zu schieben und zu ziehen, um sich aus Jigoros Griff zu befreien.

Die Augenzeugen wurden ganz leise, als sie sahen, wie der große Mann verzweifelt versuchte dem Griff zu entkommen. Dieser kleiner Japaner war tatsächlich in der Lage den mächtigen Russen festzuhalten. Er machte genau das, was er zuvor angekündigt hatte. Mittlerweile war der russische Offizier der Verzweiflung nahe. Mit einem schrei trieb er sich selbst zur äußersten Kraftanstrengung, aber er konnte Jigoro nicht abwerfen.

„Nun gut, das reicht!“, sagte Jigoro. Er löste den Griff und stand auf. Ärgerlich stellte sich der groß gewachsene Russe auf die Füße. „So jetzt bin aber ich an der Reihe! Du legst dich hin und ich halte dich!“ forderte er. „Fair genug !“ antwortete Jigoro.

Jigoro legte sich auf dem Rücken, die Beine ein wenig gebeugt und gespreizt. Der Russe breitete seine mächtigen Arme aus, um Kano in den Griff zu nehmen, so wie ein Löwe eine Maus mit seinem Tatzen bedeckt und jemand gab das Signal anzufangen. Blitzschnell hatte sich Kano herausgewunden, den Russen über sich gerollt und auf den Rücken gedreht, wo er ihn wiederum fest hielt. Alles sah so einfach aus. Dann erhob er sich ruhig. Der russische Offizier lag noch immer schwer atmend auf dem Rücken.

Langsam stand er auf und erhob drohend die Faust vor Kanos Gesicht: „Du Feigling !,“ brüllte er, „Du bist abgehauen, bevor ich einen richtigen Griff bei dir ansetzen konnte. “ Jigoro lachte. „Wenn ein Gegner dich greift, wartest du dann so lange bis er den stärksten nur möglichen Haltegriff ansetzt, bevor du beginnst dich zu befreien? Genau in den Moment, bevor er seine ganze Kraft einsetzen kann, ist der Augenblick sich zu befreien. Und das genau habe ich gemacht. Das ist ein grundlegendes Judoprinzip!“ sagt Kano.

Der Russe murrte, aber Kano lächelte. „Obwohl ich meinem Gegner erlaubt habe, mich festzuhalten, habe ich mich befreit.“ erklärte er den Umstehenden.  „Darauf zu warten, dass der Gegner den Griff zu gut halten kann, ist gegen die Judoprinzipien.“ Die meisten Passagiere stimmten dem zu.  „Seine Erklärung machte Sinn,“ bemerkte einer,  „Wenn der Gegner noch im Angriff ist, ist der Moment sich zu befreien, nicht wenn er dich schon in tödlicher Umklammerung hält.“ „Wie steht es mit der Demonstration von mehr Judo für uns?“ fragte ein anderer. Jigoro stimmte zu, noch einen Judowurf zu zeigen, aber nur einen. Er fragte einen der Mitreisenden, den er schon kannte, ob er sein Gegner sein wolle. Schnell und rücksichtsvoll führte er seinen Wurf mit ihm aus. Die anderen waren erstaunt über die effektive Leichtigkeit der Technik.  „Probier das doch mit mir!“ sagte der mächtige russische Seeoffizier, der sich das ganze aus einiger Entfernung angeschaut hatte. Jigoro wusste, das der Russe verärgert war und er wollte den Mann nicht weiter reizen, indem er in warf. Und als Jigoro zögerte verstand der Russe dies als ein Mangel an Vertrauen und forderte Jigoro noch einmal auf, zu versuchen ihn zu Boden zu bringen. Der Rest der Gruppe hatte sich hinter Kano versammelt.

„Nun wenn es sein muß!,“ sagte Kano. „Aber wir wollen eine einmalige Sache daraus machen, ohne zornige Gefühle auf einer Seite, ganz gleich, wer gewinnt.“ „Das passt mir gut!“ antwortete der Russe. Und somit war der Kampf in Gange. Die Zuschauer beobachteten dichtgedrängt, wie der Russe seine riesigen Arme um Jigoro schlingen und seine Hände verschränken wollte. Indem er seine überlegene Stärke einsetzen, um den kleinen Mann zu Boden zu zwingen, brachte er Kano ein oder zweimal aus dem Gleichgewicht, doch er war nicht in der Lage ihn umzustürzen. Kano wartete in der Zwischenzeit auf seine Chance. Als der Russe eine weitere Bewegung ausführte, machte Kano einen Schritt nach vorne und drehte sich auf dem Fußballen seines rechten Fußes, wobei er gleichzeitig seinen linken Fuß weit zwischen die Beine des Russen stellte. Dabei zog er mit den Händen und presste den linken Arm um die Hüfte des Russen. Dann zog er ihn nach vorne und warf den Man über seine linke Hüfte. Es war ein klassischer Uki-goshi, Kanos Lieblingswurf.

Jigoro Kano bei einer der seltenen Aufnahmen, die ihn bei der Ausführung seines Lieblingswurfes Uki-goshi links zeigt

Jigoro Kano bei einer der seltenen Aufnahmen, die ihn bei der Ausführung seines Lieblingswurfes Uki-goshi links zeigt

Die Zuschauer waren perplex. Jeder wollte Jigoro Kano die Hand schütteln. Der riesige Russe, der seine Fassung wieder gefunden hatte, streckte Kano die Hand entgegen und Jigoro schüttelte sie voller Wärme. Der Russe verließ das Deck. Und allmählich, mit Worten der Bewunderung und vielen Gratulationen verabschiedeten sich die Zuschauer. Ein Passagier, ein Engländer, blieb zurück.

„Das war eine galante Geste, mein Freund“, sagte er zu Jigoro. Jigoro war erstaunt und ein wenig verwirrt. „Galant?“ fragte er.  „Als du deinen Gegner auf das Deck geworfen hast, da hast du seinen Kopf mit deinem Arm gehalten, um ihn vor Verletzungen zu schützen. Ich glaube die anderen haben es nicht bemerkt, aber ich schon , “ sagte der Engländer,  „das war eine hervorragende Geste!“ Und es stimmte. Jigoro Kano hatte den Kopf des Russen vor einem Aufschlag auf das harte Deck bewart.

Die Judo-Demonstration verbreitete sich schnell über das ganze Schiff und Jigoro Kano wurde so etwas wie eine gefeierte Persönlichkeit an Bord. Als das Schiff schließlich in Yokohama andockte, verbreiteten sich die Nachrichten von Bord auch schnell an Land. Und schon bald waren die Geschichten in den japanischen Tageszeitungen nachzulesen und Jigoro Kanos Name wurde im ganzen Land bekannt.